Der Insektendichter

Harald Knust
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Über das Werk des großen Naturforschers Jean-Henri Fabre

Jean-Henri Casimir Fabre (* 21. Dezember 1823 in Saint-Léons; † 11. Oktober 1915 in Sérignan-du-Comtat, Département Vaucluse) war ein französischer Naturwissenschaftler (Entomologe), Dichter und Schriftsteller, Mitglied der Académie Française und der Légion d’honneur. Er gilt als ein Wegbereiter der Verhaltensforschung und der Ökophysiologie.

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Jean Henri Fabre – ARD-Fotogalerie

Fabre stand mit vielen Größen seiner Zeit im Briefwechsel, insbesondere auch mit Charles Darwin. Dessen Evolutionstheorie gegenüber blieb er jedoch skeptisch, wie er überhaupt allen Theorien und Systemen gegenüber Zurückhaltung zeigte. Seine Stärke war die sorgfältige und genaue Detailbeobachtung, die Feldforschung.

Fabre hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, mit denen er auf volkstümliche Weise insbesondere der Jugend wissenschaftliche und andere Themen – Chemie, Botanik, Arithmetik, Himmelskunde, Algebra, Trigonometrie, Landwirtschaft usw. – nahezubringen versuchte. Er hatte damit solchen Erfolg, dass er schließlich von seiner Publikationstätigkeit leben konnte.

1912 wurde Fabre für den Nobelpreis für Literatur vorgeschlagen. Die schwedische Akademie zeichnete jedoch in diesem Jahr den deutschen Dichter und Dramatiker Gerhart Hauptmann aus.

Weltbekannt und in viele Sprachen übersetzt sind Fabres Souvenirs Entomologiques (Entomologische Erinnerungen), ein umfangreiches Werk, das er in zehn Serien in der Zeit zwischen 1879 und 1907 veröffentlicht hat. In Deutschland waren Fabre und seine Souvenirs Entomologiques lange weitgehend unbekannt. Inzwischen gibt es aber auch Übersetzungen ins Deutsche. Kurt Guggenheim schreibt in seiner Auswahl Das offenbare Geheimnis: „… die Kunst ist in Fabres Werk sozusagen ein Nebenprodukt. So wie über allen seinen Schilderungen der Duft von Thymian und Lavendel ruht, die Sonne der Provence gleißt und der Mistral weht, so hat sich in vielen seiner Kapitel eine unnennbare Poesie ausgebreitet, von der der Leser angerührt wird.“

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In seinem hier zitierten Beitrag in der F.A.S. vom 21. Juni 2020 würdigt Cord Riechelmann den Verhaltensforscher:

Gemetzel der Goldlaufkäfer und Schmetterlingsschreie

Während Jean Henri Fabre sein Kapitel zur Ernährung der Goldlaufkäfer schrieb, fielen ihm die Schlachthöfe von Chicago ein. Diese entsetzlichen Fleischfabriken, wo zu Beginn des 20. Jahrhunderts pro Jahr 1,1 Millionen Rinder und 1,75 Millionen Schweine zerlegt wurden, die lebend in die Maschine hinein-und am anderen Ende in Form von Konserven, Schmalz, Würsten und Rollschinken wieder herauskamen, erschienen Fabre als der angemessene Vergleich, um das Tempo der Goldlaufkäfer beim Schlachten zu veranschaulichen.

25 Käfer hatte er für seinen Versuch in einem großen Glaskäfig versammelt. Wahrend die Käfer dort in einem Unterschlupf vor sich hin dämmerten, setzte Fabre etwa 150 Pinien-Prozessionsspinnerraupen in den Käfig, um sehr genau zu beobachten, wie sich die ,,Mörderbande“ auf die Raupen stürzte. Da gab es dann Mandibelnhiebe vorn, hinten, in der Mitte der Raupenprozession, auf den Rücken, den Bauch, kurz: kein Raupenkörperteil blieb ungeschlagen. Die rauhen Raupenhäute rissen, ein Strom von Eingeweiden ergoss sich, grün von den gefressenenen Piniennadeln, und wie die Raupen sich auch wanden, um sich schlugen, bissen, spuckten oder versuchten sich einzugraben – ein Entrinnen gab es nicht.

Wer das Ohr der Phantasie hat, der hätte in dieser stummen Welt der Käfer und Raupen den entsetzlichen Lärm des Mordens in Chicagos Schlachthöfen gehört. Und das mindeste, was man von Fabre sagen kann, ist, das er dieses Ohr hatte. Wie Aristoteles und Jim Morrison hat Jean-Henri Fabre den Schrei des Schmetterlings nicht nur gehört, er wusste auch um seine schrecklichen Bedeutungen. Und das flößt ihm angesichts des Gemetzels, das seine Goldlaufkäfer unter den Raupen angerichtet haben, kurz ein schlechtes Gewissen ein, hindert ihn aber nicht daran festzuhalten, dass das Tötungstempo der Käfer bis dahin noch von keinem Schlachthof erreicht worden ist.

Wenn man einmal kurz von der Eindringlichkeit von Fabres Beschreibung absieht, enthält diese kurze Passage genau das Element, das Fabres bestimmenden Einfluss auf die gesamte Verhaltenforschung des 20. Jahrhunderts erklärt, nämlich die Uberführung der Beobachtung im Freiland in ein scheinbar einfaches Experiment. In ein Experiment, das wie oben im Labor stattfinden kann, in der Regel aber vor Ort, im Freiland die Tiere provoziert. So wartet er etwa, bis eine Wespe ihre Beute kurz unbeaufsichtigt ablegt, weil sie in ihr Erdnest absteigen will, entwendet das reglose Beutetier und registriert mit atemloser Neugier den Zorn der Wespe, als sie bemerkt, dass ihr Opfer verschwunden ist.

„Beobachtung stellt vor ein Problem, das Experiment löst es auf“, schrieb Fabre und formulierte damit einen Leitsatz, der seine volle wissenschaftliche Entfaltung und Anerkennung erst nach dem Zweiten Weltkrieg in den Arbeiten des Bienentanzentdeckers Karl von Frisch, des Gänsevaters Konrad Lorenz und des niederländischen Möwenkenners und Begründers der Verhaltensökologie Niko Tinbergen finden wird, die I973 mit dem Nobelpreis für Medizin oder Physiologie ausgezeichnet werden. Ein Preis, der an die drei ausdrücklich für ihre allgemeinverständliche Forschung verliehen wurde, die die Geheimnisse tierischer Existenz erhellte und weitreichende Einsichten in das menschliche Wesen versprach. Dabei wussten die Nobelpreisträger sehr genau, wer die Wurzeln ihres Erfolges gesetzt hatte, der wesentlich darin bestand, dass sie alle ihre Forschungen immer in populärwissenschaftlichen Büchern unter die Leute gebracht hatten.

Im Grunde war dieser Nobelpreis auch eine verschobene Anerkennung für Fabre, der schon Schulbücher und populärwissenschaftliche Bücher schrieb, als diese Gattung kaum Bedeutung hatte, und der die ersten Nachweise von Orientierungsbewegungen bei Tieren überhaupt geliefert hatte. Und dass man diesen Einfluss Fabres und seine Grundlegung einer auf Beobachtung und Experiment beruhenden Schreibweise über das Verhalten von Tieren nachvollziehen kann, ist eines der großen Verdienste des jetzt mit dem zehnten Band ans Ende gekommenen Projekts der vollständigen Ubersetzung von Fabres „Erinnerungen eines Insektenforschers“ im Verlag Matthes & Seitz. Wobei dem Übersetzer Friedrich Koch und dem Zeichner Christian Thanhäuser, dessen Federzeichnungen gerade in ihrer Zurückhaltung Fabres Sprachmacht angemessen tragen, mindestens so viel Lob gebührt wie dem Verlag für seine Ausdauer.

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Kleine Lebewesen, große Literatur: Victor Hugo nannte ihn den „Homer der Insekten“: Die Erinnerungen des legendären Insektenforschers Jean-Henri Fabre …

Was 2010 mit dem ersten Band begann, ist jetzt unter anderem mit der Erzählung vom großen Goldlaufkäfergemetzel an ein Ende gekommen, dessen Wirkung noch kaum absehbar ist. Die „Erinnerungen eines Insektenforschers“ fallen nämlich in eine Zeit, in der die Methode der Beobachtung und des Experiments an Tieren im Freien immer mehr aus den Wissenschaften verschwindet und in Kunst und Literatur abwandert. In zwei Gattungen also, die Fabre schon zu schätzen wusste, als die Wissenschaftler der Akademien noch die Nase rümpften, wenn nur der Name fiel.

Was aber nicht heißen soll, dass Fabre auch zu Lebzeiten von Wissenschaftlern geschätzt wurde. Die in den Bänden der Übersetzung dokumentierte Korrespondenz mit Charles Darwin zeugt davon. Der Briefwechsel zeigt aber noch ein anderes Phänomen, das Fabres Leben wie Nachleben in der Wissenschaft immer begleitete: eine riesige Wertschätzung über einen scheinbar unüberbrückbaren
Gegensatz hinaus.

Fabre war ein entschiedener Gegner jeder Evolutiontheorie. Die Transformation der Arten, die Veränderung von Tieren und Pflanzen als Produkt der Anpassung an veränderte -Lebensumstände, lehnte er entschieden ab. Für ihn taten die Tiere, vor allem natürlich seine Insekten und unter ihnen besonders die geliebten Raub-und Grabwespen, was sie immer taten, von Anfang an. Wenn eine bestimmte Wespenart über die Generationen, die er beobachtet hatte, bei der Jagd immer wieder ihren Beutelarven an einem bestimmten Glied des Körpers den tödlichen Stich versetzte, dann war es der Instinkt, der sie leitete und nicht Evolution und Anpassung. Und dieser Instinkt war so etwas wie die Maschine, die die ewige Wiederkehr des Immergleichen antrieb.

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Jean-Henri Fabre: Wohnhaus und Museum

Um diesen Instinktanleitungen bis ins ldeinste Detail nachzugehen, hatte Fabre sich 1879 im Alter von 56 Jahren in Serignan-du-Comtat, in der Nähe von Orange, zweieinhalb Morgen Land mit einem prächtigen Haus gekauft, in dem er bis zu seinem Tod im Jahr 1915 lebte. Das Haus und den Garten, mit einer dicken Mauer versehen, hat er danach kaum noch verlassen, allerdings grundlegend über die Jahre umgestaltet. Die „Erinnerungen“ sind auch eine Auseinandersetzung mit diesem Grundstück. Fabre nannte den Insektengarten „L’Harmas“, wie steinige, von Thymian überwachsene Brachen hießen, und er ist der erste Dokumentarist der Besiedlung von halbfertigen Mauern um Grundstücke. Denn wenn der Sand für die Mauer eine Zeitlang liegen geblieben war, begann die Besiedlung durch Käfer, Wespen und andere sofort, und die Beobachtung der Tiere wurde wichtiger als die Fertigstellung des Bauobjekts.

Die Maden, die dann irgendwann im Zyklus der Insektenentwicklung auftraten, hatten so auch Macht über Fabres Welt, indem sie seine Aufmerksamkeit, fesselten. Die Geheimnisse, die die Insektennachbarn mit sich herumtrugen, wollte er allen zugänglich machen, ihre Erforschung blieb aber den geduldigen Biographen, die mit Geschick den Tieren folgten, vorbehalten. Fabre verachtete Gelegenheitsbeobachter. Wenn so ein Beobachter ihm erzähle, ein Ding sei schwarz, denke er sofort, es sei bestimmt weiß. Ohne eine Kritik der Augen gab es für Fabre kein genaues Sehen, und der Schlüssel zur Genauigkeit waren Ausdauer, Geduld
und ewige Wiederholung, jedenfalls so weit das Augenlicht trug.

Ähnlich streng hielt er es mit dem Schreiben. Uber Tiere könnten nur die wenigsten schreiben, weil es dazu einer bestimmten Intuition bedürfe, die das Verhältnis von Fremdheit und Nähe, die jedes Tier in uns auslösen könne, immer in Bezug auf das spezifische Tier formulieren müsse. Nur wer wirklich auch experimentierend hingesehen hat, weiß überhaupt, wen er vor sich hat. Im Unterschied zu den Akademiewissenschaftlern war den Literaten unter den Zeitgenossen auch aufgefallen, wie weit Fabre mit seinem Schreiben gekommen war. Victor Hugo nannte ihn den Homer der Insekten, und für den Autor des „Cyrano de Bergerac“, Edmond Rostand, war er der „Vergil der Insekten“. Unter Dichtern ging die Verehrung so weit, dass Frederic Mistral Fabres Nominierung für den Literaturnobelpreis 1911 unterstützte, den dann Maurice Maeterlinck, ein anderer lnsektendichter, bekam. Fabre hinterließ aber auch Spuren in großen Werken Literatur. So kann man die ersten Seiten von Prousts „Sodom und Gomorrha“, auf denen Monsieur de Charlus seine „künstliche Munterkeit“ ablegt, weil wie ein Insekt eine neue, bisher unbekannte Blüte in Form eines jungen Mannes entdeckt, bis in die Beobachterposition des Erzählers hinein als Hommage an Fabre lesen.

Das Problem war nur, dass sich Fabre für diese Wertschätzung nichts kaufen konnte. Da war es gut, dass er einen wohlhabenden englischen Philosophen, John Stuart Mill, zum Freund gewinnen konnte. Mill, der in die Provence gezogen war, weil er in der Nähe des Grabs seiner Frau, der Feministin Harriet Taylor, sein wollte, fianzierte Fabre über Jahre, als dieser aufgrund des klerikalen Widerstands gegen die Erziehungsreform unter Napoleon III. aus dem Schuldienst entlassen worden war. Fabre hatte seine Kurse in Naturwissenschaften ausdrücklich auch für Mädchen angeboten und damit wohl doppelten Arger heraufbeschworen.

Woraus folgt, dass für den Theoretiker des Instinkts, der jeden Lernprozess für das Leben der Insekten ablehnte und in Kontrast zum Denkvermögen stellte, der Kampf für die Emanzipation von Frauen und ihren Zugang zu Bildung und wissenschaftlichem Arbeiten kein Widerspruch war. Fabres Eindringen in die seiner Meinung nach mechanische und selbstregulative Welt der Insekten hat ihm nie den Blick für die emanzipatorischen Kräfte der Natur versperrt, die sich unter anderem dadurch ausdrückten, dass sie Menschen hervorbrachte, die wie John StuartMill in Sklaven Menschen erkannten und für deren Befreiung kämpften.

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auch als MP3-Hörbuch erhältlich

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